(2) Das tantrische "Ich"

Wir sind nicht unabhängige Einzelne, sondern voneinander abhängige Viele.

(JACK KORNFIELD)

Als Charlie Chaplin in seinem mittlerweile weltberühmten Gedicht zu seinem 70. Geburtstag (wobei es durchaus auch Meinungen gibt, dass dieses Gedicht gar nicht von Charlie Chaplin geschrieben wurde) u.a. schrieb: „… früher nannte ich es EGOISMUS – heute nennen ich es SELBSTLIEBE …“, da traf er den tantrischen Gedanken schon sehr genau. Dabei ist das Thema Selbstliebe natürlich kein Monopol einer tantrischen Lebensweise, sondern Teil vieler Lebensmodelle und fließt sicher auch mehr und mehr in ein gesellschaftsfähiges Selbstverständnis ein.

Selbstliebe und Egoismus – wo sind die Grenzen? Gibt es überhaupt Grenzen? Sind diese beiden Ausprägungen eines ICH-Bewusstseins grundsätzlich unterschiedlich? Diese und ähnliche Fragen werden in unseren Seminaren immer wieder gestellt und diskutiert. Und leider erleben wir, dass uns nicht wenige – auch erfahrene – „Tantriker“ begegnen, die von Selbstliebe reden, sie aber nur als Deckmantel für ihren ganz persönlichen Egoismus missbrauchen. Es lohnt sich also für jeden, sich immer wieder sein persönliches Selbst-Verständnis bewusst zu machen, darüber nachzudenken, es zu hinterfragen.

Selbstliebe erwächst aus einer Betrachtung des eigenen Ich heraus, die geprägt sein sollte von Akzeptanz und Zuneigung – eben von Liebe für das eigene Ich. Die Basis dafür ist die Wahrnehmung des eigenen Ich als etwas unverwechselbares, wertvolles – als eine Individualität, die es in diesem Universum tatsächlich kein zweites Mal gibt – nicht in der Vergangenheit gab und auch in Zukunft nicht geben wird. Diese Wahrnehmung bezieht sich sowohl auf den Körper (Physis), als auch auf Geist und Seele, Gefühle, Mentalität und Emotionen (Psyche). Dabei ist diese Wahrnehmung bar jeder Bewertung. Oder sollte es zumindest sein. Es gibt einfach nichts zu bewerten. Ja mehr noch: es kann nichts bewertet werden, denn eine Bewertung schließt ja immer auch einen Vergleich mit ein – einen Vergleich mit etwas oder jemand. Doch die Wahrnehmung des eigenen Ich – mit allem, was da ist und mit allem, was dieses Ich ausmacht – entzieht sich grundsätzlich einem Vergleich – womit?

Das Schwerste an der Wahrnehmung des eigenen Selbst ist tatsächlich der Übergang von der reinen Wahrnehmung zur Akzeptanz. Während die Wahrnehmung eine möglichst objektive Betrachtung bedeutet – gleich einer Betrachtung eines beliebigen Objektes unter dem Mikroskop – stellt sich der Akzeptanz unser Werte-System entgegen, unsere Vorstellung von dem, was sein darf, sein soll, sein muss. Und natürlich findet jeder Mensch in seiner Selbstbetrachtung etwas, das vielleicht nicht perfekt ist, was diesem Wertesystem nicht genügt, was er oder sie sich gerne anders wünscht – sei es, weil die eigene Vorstellung uns vorgaukelt, wie die Dinge zu sein haben oder ob es die gesellschaftlichen Normen sind, die uns unter Druck setzen (wobei das eine vom anderen oft kaum unterscheidbar ist).

Sicher finden wir an unserem Körper immer Bereiche, die uns in unserer Selbstbetrachtung nicht schön, zu klein oder zu groß, zu dick oder zu dünn, zu viel oder zu wenig, oder wie auch immer unperfekt erscheinen. Und hier können uns auch außenstehende nicht wirklich weiter helfen – denn natürlich vertrauen wir unserem eigenen Urteil mehr, als dem Urteil anderer. In diesem Fall vielleicht leider. Aber damit sind wir bereits beim Urteil – bei der Be-urteilung – und damit auch gar nicht so weit entfernt von der Bewertung …

Und genauso wie auf Körperebene begegnen wir auch bei der Betrachtung unseres Wesens, dessen, was in uns ist und damit auch zu uns gehört, Eigenschaften, Ängste, Blockaden, kleine oder große Traumen, die wir am liebsten leugnen oder verdrängen möchten. Dabei gehören diese Themen, die uns da in uns begegnen wahrhaftig zu uns, sind Teil unserer Geschichte und damit tatsächlich Teil unseres Selbst.

Die Schwierigkeit ist nun der Übergang zur Akzeptanz. Es geht um das Annehmen, darum, all das, was uns bei der Wahrnehmung des eigenen Selbst in seiner Gesamtheit begegnet, auch wirklich da sein zu lassen – es so zu lassen, wie es ist, ohne zu bewerten, ohne es in gut oder schlecht zu kategorisieren. Dies ist der entscheidende Moment in dem wir den Weg hin zur Selbstliebe ebnen – indem wir unser Ich in all seinen Facetten annehmen und akzeptieren.

Damit beginnt die Befreiung unseres Selbst von gesellschaftlichen Normen und selbst geschaffenen Fesseln. Damit beginnen wir nicht nur unsere Grenzen wahrzunehmen und zu respektieren, sondern unsere Grenzen bereits zu verschieben. Damit schaffen wir die Voraussetzung dafür, uns von unseren Blockaden zu lösen, unsere Ängste loszulassen und unsere Traumen aufzulösen.

Ein dazu passendes Mantra könnte lauten: „Ich bin, wie ich bin – und nehme mich so an.“

Allerdings wird dieses Mantra häufig missverstanden und umgedeutet in das sprichwörtliche „so bin ich und so bleibe ich“. Dabei ist die Akzeptanz des eigenen Ich mit allem was dazu gehört gerade die Basis, der Ausgangspunkt für Veränderung. Wenn ich mein Ich nicht annehme, fehlt dieser Ausgangspunkt.

Indem ich mich jedoch annehme und akzeptiere, ist jede Veränderung eine Bereicherung meines Ich-Bewusstseins und meine Schritte auf dem Weg meines persönlichen Wachstums werden größer sein, als jemals zuvor. Und vielleicht geht dieses Mantra irgendwann tatsächlich über in das Mantra: „Ich liebe mich, so wie ich bin.“ – auch wenn das manchmal ein langer Weg sein mag.

Die Gradwanderung, die an dieser Stelle entsteht begründet sich wieder in unserem erlernten Fanatismus, der Bewertung heißt und von dem niemand sich wirklich freisprechen kann. So wird das entstehende Mantra oft – manchmal unbewusst und ungewollt, mitunter jedoch auch durchaus bewusst – ergänzt durch ein verschlüsseltes Mantra, das im Klartext nichts anderes bedeutet: ich bin wichtiger als Du – oder: ich habe die Weisheit erkannt und Du nicht.

Unter dem Deckmantel der Selbstliebe wird die eigene Präsenz in den Vordergrund geschoben. Aus einem: „ich liebe mich und sorge für mich“ wird ein: „ich sorge dafür, dass ich bekomme, was ich will“. Der Unterschied ist fein – aber deutlich!

Ich liebe mich und sorge für mich“ bedeutet in erster Linie Grenzen setzen. Die eigenen Grenzen wahrnehmen und respektieren und sie im Bedarfsfall auch artikulieren – und sie bewahren. „Nein“ und „stopp“ sagen können. Für sich sorgen heißt auch sich abgrenzen und sich schützen vor Verletzung. Es bedeutet ein sich-zurück-nehmen – und damit gleichzeitig einen Raum zu öffnen für den Anderen. Es bedeutet auch ein Zulassen und Sein-lassen des Anderen – weil das Erkennen uns sagt, dass auch der Andere ein unverwechselbares, wertvolles Individuum ist mit all seinen Facetten, das ebenso das Recht auf Selbstliebe hat, wie wir. Das Erkennen, das uns sagt, dass die Wahrheit des Anderen gleichwertig ist mit unserer eigenen Wahrheit. In diesem Sinne sind wir alle – trotz aller Individualität – gleich. Es ist die Erkenntnis der Verschmelzung von DU und ICH, von Liebe und Selbstliebe.

Der Gegensatz dazu – „ich habe die Weisheit erkannt und Du nicht“ oder: „ich sorge dafür, dass ich bekomme, was ich will“ – ist progressiv oder sogar aggressiv. Es bedeutet ein Hinweg-rollen über den Anderen. Ein Sich-durchsetzen. Zum eigenen Vorteil. Egoismus unter dem Deckmantel der Selbstliebe. Denn hier sind wir weit entfernt davon zu akzeptieren, dass DU und ICH gleich sind, eins sind. Und es bedeutet Stillstand auf dem Weg des persönlichen Wachstums – denn wenn meine Präsenz bereits auf einer höheren Ebene steht, weshalb sollte ich mich dann noch – wohin? – verändern?

Das tantrische ICH ist die Akzeptanz des Ich mit all seinen Facetten ohne Bewertung. Ein Annehmen des ganzen Ich – so unperfekt es auch sein mag. Vor der Akzeptanz steht die Wahrnehmung. Auf die Akzeptanz folgt die Selbstliebe – wenn sie einher geht mit der Erkenntnis, dass es kein isoliertes ICH oder DU gibt, sondern ICH und DU sich gegenseitig Raum geben müssen, einander berühren, ja verschmelzen. Und Veränderung und Wachstum sind nur auf dieser Ebene der Erkenntnis möglich.

Solange die Trennung von ICH und DU Wesensinhalt der Selbsterkenntnis bleibt, wird Selbstliebe leicht zum Egoismus – und das persönliche Wachstum versinkt in Stagnation.

Ralf

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